Betrieb in Bremen
Nach der Demontage in Würgassen im Herbst 1985 hatten wir unsere Messstation nach Bremen zurückgeholt und eingelagert. Ein Weiterbetrieb war bis auf weiteres nicht vorgesehen, denn ...
- es war klar geworden, dass dieser für einen Dauerbetrieb zu aufwendig war, insbesondere hinsichtlich
- Betrieb (z.B. Stromverbrauch, Standortanforderungen)
- Pflege (z.B. Betreuung, Datentransfer)
- Auswertung (Hardware, Verfahren, Software),
- die Messanlage war außerdem in dieser Form für eine Vervielfältigung ungeeignet, da
- die Szintillationsdetektoren in Verbindung mit der erforderlichen Elektronik nicht ausreichend temperaturstabil waren. Dies ist insofern fatal, als wir hierfür ausschließlich kommerziell ausentwickelte, hochstabile High-End-Komponenten verwendet hatten. Die Hoffnung auf Messsysteme auf der Basis von Szintillationsdetektoren mit ihren komfortabel hohen Ansprechvermögen muss für die Umgebungsüberwachung folglich definitiv aufgegeben werden.
- alle Komponenten (Detektoren, NIM-Elektronik, und sogar unser selbstentworfener Regenmengenmesser) viel zu teuer waren.
Wie sehr viele andere mit der Messung von Kernstrahlung befasste Personen in Deutschland wurden wir dann am Dienstagmorgen, 29.04.1986, durch die Meldungen von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl jäh aus unserer Routine gerissen. (Der Unfall war am 26.04. passiert; die ersten Meldungen über eine mutmaßliche Katastrophe trafen am Vorabend und in der Nacht zum Dienstag aufgrund erhöhter gemessener Radioaktivitätswerte auf dem Gelände des schwedischen Kraftwerks Forsmark ein.) Wie wir es im Chaos des ununterbrochen läutenden Telefons, der laufend in das Labor hineinflutenden Rundfunk- und Fernsehteams, sowie unserer hektischen Bemühungen zur Sicherstellung der Betriebsbereitschaft der gammaspektroskopischen Messeinrichtungen im Labor außerdem noch schafften, unsere Messanlage zur Umgebungsüberwachung zu reaktivieren, ist heute nicht mehr rekonstruierbar. Jedenfalls richteten wir die Aluminiumkiste mit den Sensoren, sowie den Regenmengenmesser, im Vorgarten vor dem zur ebenen Erde gelegenen Labor ein, installierten den Messwagen im Laborraum knapp hinter dem Fenster, und nahmen die Anlage am Mittwoch, 30.04.1986 um 16:50 Uhr, wieder in Betrieb.
Wie die nachfolgend abgebildeten Zeitverläufe der mit dem Geiger-Müller-Zählrohr gemessenen Strahlungsintensitäten bzw. Dosisleistungen zeigen, erfolgte die Wiederinbetriebnahme gerade noch rechtzeitig.
Zeitverlauf von Umweltgrößen vom 01.05.1986 bis 05.05.1986 (zur Zeit des Tschernobyl-WashOut am Messstandort Bremen-Universität). 1440 Messintervalle (5-Minuten-Mittelwerte).
- Oben: Dosisleistung in nSv/h (blau) (gemessen mit einem Geiger-Müller-Zählrohr, bezogen auf Cs-137)
- Mitte: Momentane Regenintensität in mm/h (= L/(m²·h)) (rot), sowie daraus berechnete kumulierte Niederschlagsmenge ab Beginn der Darstellung in mm (= L/m²) (blau)
- Unten: Temperatur in °C (magenta).
Die radioaktiv befrachtete Luftmasse führt über die Zeit bis incl. dem 03.05. nur zu einer geringfügigen Zunahme der gemessenen Dosisleistung, bis diese - jeweils mit dem niedergehenden Regen - in drei Stufen ansteigt (am 04.05. ab 04:00 und ab 14:00, sowie am 05.05. um ca. 09:00). Es ist leicht vorstellbar, wie der Regen die in der über uns befindlichen Luftmasse enthaltenen Radionuklide ausgewaschen und auf dem Boden (in Detektornähe) deponiert hat, woraus sich die Erhöhungen der Strahlenintensität ergeben.
Hier zeigt sich, dass die Aktivität von den drei initialen Regenereignissen offenbar vollständig aus der Luftmasse ausgewaschen wurde, denn die vielen weiteren, weit ergiebigeren Regenereignisse im abgebildeten Zeitraum verursachen keine weitere deutliche Zunahme der Dosisleistung.
Des weiteren macht der Zeitverlauf das Abklingen der eingetragenen Aktivität deutlich, das hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) durch den radioaktiven Zerfall verursacht ist. Mit etwas Phantasie kann man die Halbwertszeit von ca. 8 Tagen des anfänglich überwiegenden Radionuklids Jod-131 im Zeitverlauf mutmaßen. Eine genaue Analyse des Abklingverhaltens ist jedoch nicht erfolgversprechend und auch nicht sinnvoll, da aus den ebenfalls u.a. in unserem Labor an der Universität durchgeführten nuklidspezifischen Messungen von z.B. Boden-, Wasser- und Lebensmittelproben bekannt ist, dass aus dem Reaktorunfall von Tschernobyl viele verschiedene Nuklide mit ganz unterschiedlichen Halbwertszeiten bei uns eingetragen wurden. Die derart zusammengesetzte Summen-Abklingkurve ist (da auch zahlreiche Nebenbedingungen zu beachten sind) nicht erfolgreich modellierbar.
Der Zeitverlauf über die ersten 16 Wochen "nach Tschernobyl" zeigt, dass die Strahlungsintensität auch nach unterstelltem vollständigem Abklingen der Aktivität des Jod-131 noch nicht ganz wieder den Wert von vor den Radioaktivitätseinträgen ereicht hat. Ursache hierfür dürfte der Strahler Cäsium-137 (Halbwertszeit 30 Jahre) sein, der ebenfalls mit dem WashOut niedergegangen ist, und uns entsprechend länger erhalten bleiben wird.
Da in absehbarer Zeit keine weiteren dramatischen Änderungen der zu messenden Umgebungsstrahlung zu erwarten waren, haben wir die Messanlage nach dem oben dargestellten Zeitraum am 18.08.1986 endgültig außer Betrieb genommen.
Weitere Entwicklung daran gab es nicht mehr; das private Projekt "Umgebungsüberwachung" an der Universität Bremen war damit beendet. Die Idee lebte jedoch in mehreren der damals Aktiven weiter, und das Bewusstsein um die Notwendigkeit, die Begeisterung an der Aufgabe, und das gewonnene KnowHow, wurden von diesen Personen in das parallel weiterlaufende Projekt der unabhängigen Umgebungsüberwachung unseres geschätzten Kollegen und Ideengebers in Garching weitergetragen. (Siehe unter Entwicklung in Garching.)
Auf der weiter unten folgenden Seite Gemeinsame Erkenntnisse sind die wichtigsten Ergebnisse und Erfahrungen, die im beschriebenen Zeitraum
- mit Entwicklung und Betrieb unserer Messanlage in Bremen, sowie
- mit Betrieb und Weiterentwicklung der Messanlagen in der Arbeitsgemeinschaft Umgebungsüberwachung
Es sei an dieser Stelle noch betont, dass die gemessene externe, d.h. auf den Menschen von außen einwirkende Umgebungsstrahlung aus Einträgen wie durch den Unfall in Tschernobyl, lediglich ein Indikator für die erhöhte Strahlenexposition der betroffenen Menschen ist. Die gleichzeitig und zusätzlich stattfindende Strahlenexposition durch in den Körper aufgenommene Radionuklide (vor allem durch die Atmung kontaminierter Luft, sowie durch den Verzehr belasteter Nahrungsmittel) bewirkt i.d.R. eine vielfach höhere Strahlenbelastung als die Bestrahlung von außen. Die tatsächliche Strahlenbelastung solcherart betroffener Menschen kann niemals mit physikalischen Mitteln gemessen, sondern immer nur unter Zuhilfenahme vieler Annahmen, z.B. über ihre Lebens- und Verzehrsgewohnheiten, ihren Stoffwechsel, sowie über Verhalten und mutmaßliche biologische Wirkung der radioaktiven Stoffe im Körper, sehr grob und wenig zuverlässig (aber aufwendig!) berechnet, also nur rechnerisch abgeschätzt werden.
Die Messdaten aus der hier beschriebenen Umgebungsüberwachung auf γ-Strahlung erlauben somit lediglich die Feststellung einer Erhöhung der äußeren Strahlenexposition überhaupt, sowie bei einem unfallbedingten Eintrag den Vergleich unterschiedlich belasteter Regionen (falls denn die einwirkenden, befrachteten Luftmassen identische Radionuklidzusammensetzungen aufweisen).