Betrieb in Würgassen

Vom 13.02.1985 14:30 Uhr bis 14.09.1985 haben wir unsere Messapparatur am Wohnort einer Gastfamilie in der Gemeinde Beverungen betreiben können. Dieser Messstandort befand sich in ca. 2300 m Entfernung (Luftlinie) vom Atomkraftwerk Würgassen KWW (an der Oberweser). Das Bild auf das damalige Kraftwerk ist am 13.02.1985 von der linken Weserseite (von einem kleinen Höhenzug herunter) etwa in Richtung Südosten aufgenommen worden (bei leicht diesigem Wetter).

Blick auf das damalige Atomkraftwerk Würgassen vom Höhenzug auf der gegenüberliegenden Weserseite

Der Betrieb am Standort Würgassen war für uns aus mehreren Gründen interessant:

Beim Langzeitbetrieb in Beverungen mussten wir die Erfahrung machen, dass die beiden Szintillationsdetektoren zwar eine wunderbar hohe Ansprechwahrscheinlichkeit besaßen, so dass die statistische Streuung der Zählraten im Zeitverlauf ganz deutlich kleiner war als beim Geiger-Müller-Zählrohr. Dafür besaßen beide Szintillationsdetektoren leider auch ausgeprägte Temperaturabhängigkeiten, die die Anwendung im Freien im Grunde verunmöglichen.

Zeitverlauf der Impulsrate des Geiger-Müller-Zählrohrs, der (durch 100 geteilten) Impulsrate eines Szintillationsdetektors, des Niederschlags, sowie der Temperatur am Standort Beverungen bei Würgassen vom 20.08.1985 bis zum 22.08.1985

Das Bild zeigt den Zeitverlauf der Impulsrate des Geiger-Müller-Zählrohrs (grün, in Impulsen/Minute), der Impulsrate eines Szintillationsdetektors (rot, in 100 Impulsen/Minute), des Niederschlags (in Millimeter/Stunde), sowie der Temperatur (in °C) am Standort Beverungen bei Würgassen vom 20.08.1985 bis zum 22.08.1985. Die ausgeprägten Temperaturänderungen zwischen Tag und Nacht schlagen sich deutlich als inverse Änderungen in den Zählraten des Szintillationsdetektors nieder, während das Geiger-Müller-Zählrohr keine erkennbaren Zählratenänderungen wiedergibt. So komfortabel die hohe Zählrate des Szintillationsdetektors (und die daraus folgende kleine relative statistische Streuung) auch sein mag - der starke Temperatureinfluss macht sie für den Außeneinsatz ganz offensichtlich ungeeignet, und selbst für einen Einsatz im Haus scheiden sie vermutlich aus!

Das folgende Bild gibt einen Überblick über die in der gesamten Testzeit am selben Standort erhobenen Daten (13.02.1985 bis 14.09.1985), soweit sie mir heute noch vorliegen.

Zeitverlauf der Impulsrate des Geiger-Müller-Zählrohrs, der (durch 100 geteilten) Impulsrate eines Szintillationsdetektors, des Niederschlags, sowie der Temperatur am Standort Beverungen bei Würgassen vom 13.02.1985 bis zum 14.09.1985

Zunächst fallen ganz deutlich zwei große zeitliche Lücken in den gezeigten Messdaten auf.

Die erste dieser beiden Lücken (im April/Mai) beruht auf mangelnder Datensicherung irgendwann in der Zeit von 1985 bis heute, d.h. die Daten sind irgendwann in diesem Zeitraum verloren gegangen. Man sollte dazu bedenken, wie sehr sich die zur Datenverarbeitung benutzte Ausrüstung in den zurückliegenden 30 Jahren verändert hat, und dass die Daten - um aus der damaligen Zeit bis heute "herübergerettet" zu werden - mehrfach aus einem alten, inzwischen inkompatiblen System auf ein jeweils neues System übertragen werden mussten!

Die zweite Datenlücke geht auf noch viel banalere Umstände zurück: Wie erwähnt, wurden die Daten mittels eines damals üblichen Cassetten-Recorders vor Ort auf Band aufgezeichnet. Zur Ermöglichung der täglichen blockweisen Aufzeichnung musste der Recorder folglich ständig auf "Aufnahme" voreingestellt sein. Dies wurde bei der Messdatenabholung Anfang Juni leider vergessen, so dass in der Folge fast den ganzen Monat lang keine Daten aufgezeichnet wurden - bis dieser Umstand beim Termin der nächsten Datenabholung bemerkt wurde. Selbstverständlich war die messdatenabholende Person mit der Apparatur und ihren Erfordernissen gut vertraut!
Wer über diese Missgeschicke (vielleicht sogar leicht spöttisch) lacht, ist ganz offensichtlich vollständiger Laie, und hat sich noch nie ernsthaft mit kontinuierlichen Messaufgaben befasst! Wer dagegen erfahren ist, wer selber Messanlagen gebaut und auch langzeitig betrieben hat, der weiß darum, wie leicht und wie häufig und aus wie vielen verschiedenen, vorher undenkbaren Gründen derartige Missgeschicke einfach passieren!

Ich unterschlage diese unseren kleinen Missgeschicke hier bewusst nicht, denn auch sie stellen wichtige Erfahrungen dar, die nur im realen Messbetrieb erworben werden können. Für alle neu zu konzipierenden Messanlagen heißt dies, dass ihr Dauerbetrieb, sowie ihre Benutzung und Bedienung vor allem eins sein muss: zuverlässig, einfach durchschaubar, und narrensicher, und zwar in allen nur denkbaren Aspekten.


Die wichtigere Information in der obigen Grafik ist jedoch eine andere:

nämlich der praktisch kontinuierliche Anstieg der Zählraten sowohl des Geiger-Müller-Zählrohrs als auch des Szinitllationsdetektors über den dargestellten Zeitraum (im Bild sind nur die Daten eines der beiden Szintillationsdetektoren dargestellt, da der andere nach einiger Betriebszeit ausgefallen war). Vom Frühjahr bis zum Spätsommer 1985 nahm die Zählrate des Geiger-Müller-Zählers um ca. 14% des Ausgangswertes zu, und die des Szintillationsdetektors um ca. 21%.
Es handelt sich, wie aus der vorherigen Grafik (über die drei Tage im August 1985) hervorgeht, nicht um einen Einfluss der im Sommer höheren Temperatur auf die Detektoren oder die Messanlage, denn dort zeigte die Zählrate

Unerfahren mit der Deutung von Ergebnissen aus der Umgebungsüberwachung, wie wir es damals waren, deutete der mit der Auswertung befasste Kollege den langzeitigen Anstieg der Strahlungsintensität damals als verursacht durch eine in den Sommermonaten geringere Bodenfeuchte, wobei er sich inhaltlich auf eine wissenschaftliche Veröffentlichung aus Japan stützte (Minato-1980a). Im Gegensatz zu der in dieser Publikation beschriebenen praktischen Untersuchung hatten wir allerdings die Bodenfeuchte im Zeitverlauf nicht mit gemessen; die Abnahme der Bodenfeuchte, sowie ihr Ausmaß, und das Maß ihrer Wirkung auf die gemessenen Strahlenintensitäten, waren bei uns also rein hypothetisch. Grundsätzlich war der Gedankengang zunächst aber nicht von der Hand zu weisen, denn weniger Wasser im Boden könnte eine messbar geringere Abschirmung der terrestrischen, aus dem Boden kommenden, auf unsere Detektoren einwirkenden Strahlung bedeuten.

Wie aus den in den letzten dreißig Jahren Umgebungsüberwachung erhobenen Messdaten jedoch inzwischen absolut klar geworden ist, tritt zumindest in Deutschland eine signifikante Änderung der messbaren Strahlung im Jahresverlauf infolge variierender Bodenfeuchte definitiv nicht auf (wenn wir hier einmal von der bekannten Abnahme der Strahlung durch Schneebedeckung des Bodens absehen, die dem oben gezeigten Jahresgang nicht zugrundeliegen kann). Dies belegen die mittlerweile vorliegenden, gemeinschaftlich von und mit vielen Mitstreitern gesammelten Erfahrungen an ca. zwanzig Messstandorten ganz eindeutig!


Als Schlussfolgerung bleibt damit aus heutiger Sicht nur übrig:

Es handelt sich bei dem in der Jahresübersicht gezeigten Anstieg der ionisierenden Umgebungsstrahlung mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen direkten Einfluss aus dem potentiellen, in der Nähe unserer Messanlage befindlichen Emittenten, dem Atomkraftwerk Würgassen (KWW). Da die Messung keine kurzzeitigen Anstiege mit rascher Wiederabnahme zeigt, sondern einen kontinuierlich-langfristigen Anstieg, handelt es sich offenbar nicht um die bei Emissionen aus Atomanlagen häufig zunächst unterstellten Abgaben radioaktiver Edelgase (die nur schwer zurückgehalten werden können), denn diese haben überwiegend kurze Halbwertszeiten, und sind zudem flüchtig. Vielmehr muss es sich um quasi-kontinuierlich geschehene Ablagerungen von festen radioaktiven γ-Strahlern mit größeren Halbwertszeiten (Jahre?) in der Nähe unseres Messstandortes handeln. Solche Stoffe lassen sich normalerweise von Filteranlagen in einem Atomkraftwerk überwiegend zurückhalten. Dass dies in Würgassen offensichtlich nicht ernsthaft geschah, ist eine traurige Bestätigung unserer anfänglichen Vermutungen zu dieser Anlage.

Aus einigem zeitlichen Abstand betrachtet, gewinnt diese Schlussfolgerung noch an Plausibilität. Schließlich waren wir nicht die erste Arbeitsgruppe, die einen Anstieg der Umgebungsstrahlung in der Nähe des Atomkraftwerkes festgestellt hatte - wir waren ja bereits bei unserer Standortwahl für unseren Probebetrieb von der betreffenden Publikation beeinflusst (Levin-1983a).
Allerdings waren wir unerfahren und haben uns von einer anderen wissenschaftlichen Publikation in die Irre führen lassen.